DDR-geschiedene Frauen bei der Rente diskriminiert und aus Härtefallfonds minimal bedacht

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Vortrag und Gesprächsrunde gut besucht / Ausstellung im Landratsamt bis 14. November

 

 

Schleiz. Mit dem Renteneintritt in die Altersarmut – so erlebten und erleben es zahlreiche Frauen, deren in der DDR-Zeit erworbene Rentenansprüche nach geschiedenen Ehen im Einigungsvertrag 1990 nicht anerkannt wurden. „Die Frauen sehen sich um ihre Lebensleistung betrogen“, erklärt Nadine Hofmann, Gleichstellungsbeauftragte des Saale-Orla-Kreises. Sie hatte bisher zu 70 davon betroffenen Frauen aus der Region Kontakt, die sie um Hilfe bei der Beantragung von Geldern aus einem von der Bundesregierung eingerichteten Härtefallfons baten.

 

Zu einem Vortrag und einer Gesprächsrunde zum Ausstellungsthema „Frauen kämpfen für ihr Recht. In der DDR geschieden, durch den Einigungsvertrag diskriminiert“ waren in dieser Woche 15 Betroffene ins Landratsamt gekommen. Referentin Marion Böker (Beraterin für Menschenrechte & Genderfragen, boeker-consult) aus Berlin informierte über die bisherigen Aktivitäten, unter anderem des 1999 gegründeten Vereins der in der DDR geschiedenen Frauen, diese Benachteiligung zu beenden. Aus Sicht des Vereins sei die Diskriminierung der in der DDR geschiedenen Frauen bei der Rente im Einigungsvertrag der BRD mit der DDR 1990 festgeschrieben worden. „Sowohl der Einigungsvertrag als auch das Rentenüberleitungsgesetz 1992 wurden im Widerspruch zum Gebot der Gleichstellung und Verbot der Diskriminierung von Frauen verabschiedet”, so Marion Böker.  „Das damalige Grundgesetz und das UN-Menschenrechtsabkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) hätten ausgereicht, für die in der DDR geschiedenen Frauen spezielle vorübergehende Sonderregelungen einzuführen, um eine angemessene, nichtdiskriminierende Rentenüberleitung zu gestalten”, sagt Böker, die für die Rechte der betroffenen Frauen bei den Vereinten Nationen in Genf zuletzt 2023 vorsprach.

 

Mehrere Frauen waren juristisch gegen die Ungleichbehandlung vorgegangen, verloren jedoch zahlreiche Rechtsprozesse. Laut Marion Böker war 2017 beim UN-Ausschuss Frauenrechtskonvention ein erster Erfolg erwirkt worden: Deutschland wurde aufgefordert, ein Entschädigungsmodell für die Frauen zu finden.* Diese Forderung sei jedoch nur zu einem kleinen Teil umgesetzt worden. Statt eines Entschädigungs- oder Gerechtigkeitsfonds richtete der Bundestag 2022 die „Stiftung Härtefallfonds” zur  „Abmilderung von Notfällen” ein – für eine Einmalzahlung von 2.500 Euro (bzw. 5.000 Euro in fünf Bundesländern) für die Frauen und gleichzeitig 16 Berufsgruppen wie zum Beispiel Bahnmitarbeitende (die sogenannte Ost-West-Rentenüberleitung) sowie Spätaussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge. Aus diesem Fonds, der 2024 bereits wieder geschlossen wurde, erhielten weniger als fünf Prozent der Antragstellerinnen eine Zahlung. „Beschämend wenige“, so Böker. Die meisten Frauen scheiterten an den Kriterien. „Ich hatte 17 Cent zuviel Rente, um die Entschädigung zu bekommen“, rief eine Besucherin des Vortrags in Schleiz der Referentin Marion Böker zu.
Die wesentlichen Kriterien waren: mindestens zehn Ehejahre mit mindestens einem Kind, die Rente durfte am 1. Januar 2021 nicht höher als 830 Euro netto sein und die Frauen mussten vor dem 2. Januar 1952 geboren sein.

 

Eine Besucherin des Vortrags in Schleiz berichtete, sie habe den Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) um Unterstützung gebeten sowie den Sozialverband VdK; aber entweder keine oder banale Antworten erhalten. Lediglich Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, habe Unterstützung angeboten.

 

Marion Böker motivierte in einer anschließenden Gesprächsrunde die anwesenden Frauen, in ihren Bemühungen nicht nachzulassen, sich an öffentlichen Aktionen zu beteiligen, weitere betroffene Frauen zu aktivieren und auf die politischen Vertreter der Parteien sowie den Landesfrauenrat zuzugehen.

 

Die Gleichstellungsbeauftragte des Saale-Orla-Kreises, Nadine Hofmann, erklärte, sie stehe weiter als Ansprechpartnerin für die betroffenen Frauen zur Verfügung und informiere diese über weitere Entwicklungen in Sachen Rente.

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Im Landratsamt in Schleiz sind bis zum 14. November zwei Ausstellungen zu sehen: Die Wanderausstellung „Mensch? Mensch! Menschenrechte!“; initiiert vom Thüringer Volkshochschulverband und die Ausstellung zu Rentenansprüchen von in der DDR geschiedenen Frauen mit bedrückenden Beispielen von betroffenen Frauen dieser Rentendiskriminierung.
Die Veranstaltungen wurden in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule des Saale-Orla-Kreises organisiert und von Land Thüringen finanziell gefördert.

 

* Handlungsempfehlung der UN an Deutschland (Überprüfungsausschuss der UN-Menschenrechtskonvention CEDAW, 85. Sitzung am 11. Mai 2023 in Genf):  „Ändern Sie die Kriterien des Fonds für besondere Härtefälle, so dass er allen geschiedenen Frauen aus der ehemaligen DDR finanzielle Unterstützung bietet, die (…) Diskriminierung erfahren mussten (…) , und stellen Sie pro aktiv sicher, dass alle Frauen, die Anspruch auf den Fonds haben, sich ihres Rechts bewusst sind.“

 

Brit Wollschläger
Pressesprecherin

 

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Hintergrund:

 

Im Einigungsvertrag von 1990 wurden in der DDR geschiedenen Frauen Rentenansprüche aus DDR-Zeit aberkannt, wodurch ihnen rund ein Viertel ihrer Altersversorgung fehlt. – Laut Marion Böker fehlen den betroffenen Frauen im Durchschnitt 300 Euro Rente monatlich.

In der DDR galten großzügige Regelungen für Rentenansprüche für Kindererziehung und Pflege; es gab auch die Möglichkeit einer günstigen freiwilligen Versicherung bei beruflichen Auszeiten. Bei einer Scheidung gab es dafür jedoch keinen regelhaften Versorgungsausgleich wie in Westdeutschland. Zudem wurden zur Rentenberechnung in der DDR nur die letzten 20 Jahre herangezogen, nicht alle Verdienstjahre. Mit dem Einigungsvertrag 1990 galt das bundesdeutsche Rentensystem auch für die Frauen in der DDR. Nun zählten alle Berufsjahre gleichwertig; die symbolischen Rentenbeträge der Kindererziehungsjahre in der DDR-Zeit zogen das Rentenniveau der betroffenen Frauen nach unten. Während geschiedene Männer in der Bundesrepublik für den in Haus- und Familienarbeit erwirtschafteten Anteil der Ex-Ehefrauen einen Rentenbetrag an sie abgeben mussten, brauchten das in der DDR geschiedene Ehemänner aufgrund des anderen Rentensystems nicht. Mit dem Einigungsvertrag genossen die Renten der Ex-Ehemänner Bestandsschutz. Die Renten der 800.000 betroffenen Frauen nicht.

 

„Mit dem Rentenüberleitungsgesetz 1991 wurde bundesdeutsches Rentenrecht über DDR-Rentenrecht gestülpt und Leidtragende waren unter anderem die in der DDR geschiedenen Frauen. Denn obwohl sie ihren Männern jahrelang den Rücken für die Karriere freihielten, im Familienbetrieb unentgeltlich mitarbeiteten oder Familienangehörige pflegten, erhielten sie dafür keinen Versorgungsausgleich nach westdeutschem Recht. Ihre Ex-Männer durften die ganze Rente für sich behalten. Eine geschätzte halbe Million Frauen wurden im Rentenalter nach 1996 plötzlich zu Sozialfällen, obwohl sie jahrzehntelang erwerbstätig gewesen waren“, heißt es in einem Artikel der „ZEIT“ zu dem Thema.

 

Laut Rentenüberleitungsgesetz sollte bis 1997 entschieden sein, wie die frauenspezifischen Ansprüche des DDR-Rentensystems in Westrecht überführt werden können. Dies geschah jedoch nicht.

 

 

 

Brit Wollschläger

Pressesprecherin

 

 

Landratsamt Saale-Orla-Kreis

Büro des Landrates

Oschitzer Straße 4

07907 Schleiz

Marion Böker im Gespräch mit betroffenen Frauen

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