Von altem Brauchtum: Pfingstdienstag

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Am dritten Pfingstfeiertag fanden in der Regel Umzüge Volkstänze und Wettspiele statt. Mancherorts tritt zum Pfingsttanz der Pfingstkönig – ein mit Laub geschmückter Junge – als Grüner Mann auf. Im Reußenland war die Teilnahme an diesem Pfingst- oder Maientanz‹ seitens der haushaltsvorstehenden Ehepaare Pflicht, weswegen dieser auch ›Frontanz‹ hieß. Auch mußten bei solchen ›Pflichtveranstaltungen‹ die teilnehmenden Männer als Zeichen ihrer Mitgliedschaft im Gemeindeverband oder einer Gesellenvereinigung bzw. Handwerkerinnung mitunter ein bestimmtes Quantum Bier in einem Zuge austrinken oder ansonsten eine gehörige Strafe zahlen, die dann zum Einkauf von noch mehr Bier verwandt wurde.
Zwischen Pfingsten und Johanni fanden auch die Jahresfeste und -umzüge einiger Innungen statt, wie etwa der Pfingstquas der Neustädter Tuchmacherinnung.1

Der Bornquas

Meist zu Pfingsten, mancherorts auch zu Johanni oder im Herbst, fanden vielerorts so genannte ›Brunnenfeste‹ statt, wo alle Brunnen des Ortes [fallweise auch die Verteiler der hölzernen Röhrenwasserleitungen] gemeinschaftlich gereinigt und anschließend ein sprichtwörtlich feucht-fröhliches Nachbarschaftsfest abgehalten wurden. Zur Brunnenreinigung spendete jeder Haushalt eine Tasse voll Salz, womit dann die Wände des Brunnenhäuschens innen abgerieben wurden. Jung verheiratete oder neuhinzugezogene Paare wurden mit Musik zum Born geleitet. Mitunter ging dieser Handlung ein festlicher Umzug mit einem Konzert der Blaskapelle am Vormittag voraus, ein Pfingsttanz folgte am Abend als Ausklang.2 ›Quas‹ ist in Ostthüringen ein Lehnwort aus dem Sorbischen und bedeutet soviel wie ›Gastmahl‹. Das Fest selbst begann damit, daß der Brunnen oder Röhrenkasten vollkommen ausgeschöpft wurde, wobei das Emporwinden der Wassereimer und das nachfolgende Umherspritzen mit Wasser das Hauptvergnügen der anwesenden Jugend bildete. Danach ging man daran, den Boden und die Wände des Brunnens von Sand und Schmutz zu befreien. Dann wurden die Saugklappen auf ihre Funktionsfähigkeit und Dichtigkeit überprüft. Zuletzt wurde Salz oder Holzkohle auf den Grund gelegt und die Öffnung wieder verschlossen. Selbstverständlich gingen die Arbeiten mit Musikantenbegleitung vor sich und es gab Bier, Brot und Käse. Auch wurde der Brunnen noch schön geschmückt. Erst danach war die jeweils einjährige Amtszeit des Bornherrn, des Verantwortlichen für die Wasserversorgung, zu Ende und es wurde ein neuer bestimmt. Nun begann der eigentlichen Quas, wozu sich die Borngenossen, die brunnennutzenden Familien in einem festlich geschmückten Saal einfanden und jedes Haus einen Teil zum Festschmaus dazugab. Nach dem Essen begann das von der Jugend schon ungeduldig erwartete Tanzvergnügen und der neue Bornherr (in den Städten auch mehrere) hatten darüber die Aufsicht und damit erstmalig die Gelegenheit, sich in ihrem neuen Amt zu beweisen. Nach dem Bau der Hochdruckwasserleitungen und dem Verschwinden der Brunnenbottiche bestand für das schöne Fest keine Veranlassung mehr.3

…daß den Dirnen die Adern im Leibe platzen und die Seele kracht.‹ – Vom Dorftanz in früheren Zeiten

Ein ganz besonderes Vergnügen waren in alter Zeit die Tanzveranstaltungen im Mai, zu Pfingsten oder zu den großen Feiertagen. Mancherorts wurden dazu auf dem Dorfanger, neben der Gastwirtschaft oder an einem speziellen Tanzplatz in besonderen Lindenbäumen [Lustlinden] oder Buchen [Tanzbuchen] Hochlauben mit Tanzböden errichtet, die mitunter zwei oder drei Stockwerke aufweisen konnten. Oftmals waren dafür energetisch sehr aufladende Plätze ausgesucht worden. Ernst Stahl schreibt über diese Bäume: »Zwischen die mächtigen Äste der Bäume wurde ein Tanzboden gezimmert, der besonders der männlichen Jugend in den Monaten Mai bis Oktober als Tanzplatz diente. Es gab aber auch Beispiele, wo die Musikanten oben in den Zweigen auf einer hergerichteten Plattform gesessen haben und sich die Dorfjugend in dem erfrischenden Schatten, den die zumeist weitausladende Krone spendete, vergnügte.«4 Von der ehedem aus vier mächtigen Bäumen bestehenden Tanzlindengruppe von Gefell waren im Jahre 1978 noch drei erhalten.5 Von der Tanzlinde bei der Kalten Schenke nahe Wilhelmsdorf – einem 300 Jahre alten, 20 Meter hohen und 4 Meter im Umfang messenden äußerst vitalen Baumveteranen – heißt es, schon Kaiser Napoleon habe im Jahre 1812 unter ihm gerastet. Der Freitanzboden an dem Podest wurde 1975 neu errichtet. Sein Vorläufer geht auf das Jahr 1840 zurück.6

Die Tänze der alten Zeit waren nicht nur eine Quelle der Lebensfreude, sondern sie boten den Tänzern auch die Möglichkeit, sich als sportliche und damit potente Ehekandidaten zu präsentieren. So weiß jeder, der einmal bei einem Volkstanzensemble mitgemacht hat, daß die Lebenskraft eines Tanzes durch die volkstänzerische Qualität in nicht geringem Maße mitbestimmt wird. »Eine Vielzahl unserer Volkstänze sind schwierig in der Aufführung. Sie verlangen Geschicklichkeit und Kraft. Oft wirken Tänze wie tot, weil sie ungekonnt heruntergetanzt werden, wobei es den Tänzern schon sichtlich Mühe bereitet, die Schritte und Formen des Tanzes einigermaßen exakt auszuführen. Der Tanz wird nicht erlebt und kann somit auch für den Zuschauer nicht zum Erlebnis werden.«7 Einer dieser alten Tänze war der ›Dreher‹, auch ›Schleifer‹ oder ›Ländler‹ genannt, eine Art Walzer im ¾-Takt oder der ›Siebensprung‹, ein von Männern getanzter Geschicklichkeits- und Scherztanz, der ursprünglich zu den Zeiten aufgeführt wurde, wo Fruchtbarkeit wichtig war, etwa zu den Frühlings- oder Erntefesten. Er ging etwa wie folgt: »Nach dem Takt der Musik wandelt der Tänzer um seine Tänzerin mehrmals herum. Dann hat der Tänzer sieben Bewegungen auszuführen: zwei mit den Füßen, zwei mit den Knien, indem er erst das eine, dann das andere niederläßt, zwei mit den Ellenbogen, die er nacheinander auf den Boden stößt, und eine mit dem Kopf, mit der Stirn den Boden berührend. Und das alles rückwärts. Das Mädchen tanzt während dieser Zeit jeweils um ihn herum.«8 Vorallem der bekannte ›Altenburger Rumpuff‹ erforderte viel Kraft und lange Vorbereitung. »Seine Ausführung ist schwer zu beschreiben. Durch Stampfen mit den Absätzen der Stiefel, durch Händeklatschen, Fliehen und Vereinigen des Tanzpaares, Drehen auf der Stelle und zuletzt mit dem Aufschwung des Mädchens, wozu große Bravour des Tänzers erfordert wird, ähnelte er dem steyrischen Ländler.«9

Die Kirche natürlich wetterte im 17. und 18. Jahrhundert gegen die Tanzwut der einfachen Leute und zog gegen die ›schändliche Greuel deren heutigen Täntze / auf die Sonn- und Festtage‹ vehement, doch weitgehend erfolglos zu Felde. Im Jahre 1701 beispielsweise beschwerte sich ein solcher Frömmler bei der Obrigkeit und schildert die ihm unhaltbar gewordenen Zustände auf den Tanzböden: »Sobald der Fiedler oder Spielman aufmachet [beginnt] ein stetiges unordentliches Rennen und Lauffen, … das vernünftige Leute nicht in der Stube bleiben können. [Sie] Pochen, boldern, springen hoch in die Höhe, gleich als wollten sie zur Decke oben hinausfahren, Schreyen, Jauchzen, Krähen wie die Galgenhünlein und ehe sie einmahl den reihen herumbgefahren, haben sie sich auf alle Zeiten herum zu drey- und viermal gedrehet verkördert, verzwirgelt, hin und widergeworffen, geschwungen geruckt und hoch empor gehoben, daß den Dirnen die Adern im Leibe platzen und die Seele kracht. Bey den unverschämten, leichtfertigen, unziemlichen Lumpen-Täntzen, wenn der reihen aus ist, tritt Hans zu Käthen in der Dirnen- und Mägdehauffen, nimmt die Magd bey Kopffe, verhüllet und verdecket sie, daß man ihr das Haupt nicht sehen kann, wieget sie hin und wieder, poßte sie, und lecket sie auf beyden Wangen, wie der Hund den Erbsentopf. Etliche verkriechen sich auch ins Hauß in einen Winkel, spielen der blinden Kuh etc., treiben durchaus böse Arbeit.«10

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verschwanden dann die alten Tänze von den Tanzsälen und machten zunehmend modernen Gesellschaftstänzen wie Walzer, Galopp oder Polka Platz, bei denen man sich zwar weit weniger anstrengen muß, die das Tanzvolk aber auch nicht so in Hochstimmung zu bringen vermögen. Die modernen Tänze brachten die ›Modernisierung‹ und damit auch die Vereinheitlichung und Entsinnlichung der alten Sitten wieder ein Stück voran. Die Tänze wurde steifer und verbürgerlichten, aber man tanzte immer noch paarweise, selbst auf den modernen Disko-Veranstaltungen der späten 1970er- und 80er-Jahre, worauf es bis zum „Alleinetanzen“ der Jugendlichen im Zuge des Verbreitung der elektronischer Musik ab Mitte der 1990er-Jahre nur noch ein kurzer Schritt sein sollte.

Volkslieder aus dem Reußischen Oberland

»Zu den Ruhepunkten im schier unendlichen Arbeitsalltag vergangener Jahrhunderte gehörten auch Musik bzw. das Singen von Liedern. Sie erklangen bei festen und verschiedenen Formen der Geselligkeit, zur sonntäglichen Entspannung, mitunter am kurzen freien Feierabend und selbst zu mancher Arbeitsverrichtung.«11

Gegenwärtig ist es uns möglich, über Tonträger, Radio, Fernsehen und seit einigen Jahren auch von audio-visuelle Kommunikationsgeräte jegliche Art von Musik zu jeder x-beliebigen Zeit in der Regel bequem zu konsumieren. Weder können wir uns jene geradezu unheimliche Stille vorstellen, die vor der massenhaften Verbreitung motorisierter Fahrzeuge und Maschinen auf dem Land geherrscht haben muß, noch den gewichtigen Umstand, daß Musik für unsere Vorfahren alles andere als omni-präsent und selbstverständlich war und darum regelrecht gesucht, ja selbst erzeugt werden mußte. Mit dem etwaigen Singen von Liedern füllten sie etwa Arbeitspausen aus oder erleichterten sich monotone Tätigkeiten. Auch kann die Bedeutung des Liedes zur Hervorrufung freudvoller Lebensmomente wie auch zur Erleichterung der bedrängten Seele nicht unterschätzt werden.12

Interessantes über die Tradition des Singens in früheren Zeiten hat Georg Brückner aus dem Dorfe Altengesees überliefert: »Wie auf den Dörfern umher, so [gibt es] auch hier das gemeinschaftliche Singen der Burschen und Mädchen an schönen Abenden, dies nicht ohne alle Kunst und oft mit guten Naturgaben. … Daß bei Hochzeiten, Taufen und Schlachtfesten Burschen und Mädchen aus befreundeten Häusern sich mit Reimen und Improvisationen und Spöttereien ein Geschenk ersingen, ist ebenso ein alter Brauch, als das Auflauern der Dorfburschen auf fremde Freier um einheimische Mädchen.«13 Aus solchen Stegreifgedichten bis hin zu sogenannten ›Schlumperliedern‹ (also unordentliches, textlich nicht unfixiertes Liedgut) sind auch die bekannten Dorflieder entstanden, von denen jeder Ort mindestens eines aufzuweisen hatte. Die letzte Strophe des ›Railaliedes‹ sei in diesem Zusammenhang genannt: »Hopperts ham´ ne schwarze Kuh. Schulzhansens hams Tor immer zu. Fröhlichs ist ne Henne gestorm. Bei Hepfners isses Bier verdorm. Sachsens ham´ was gebaut. Rüdschers ham´s angeschaut. Sie sind alle hier genennt. Nun ist das Railalied zu End.«14 Auch Wechsel-Streitgesänge mit anderen Dörfern waren beliebt, wie jener 12-strophische Wechselgesang zwischen den Mädchen von Mühlberg und Haueisen (beides Ortsteile von Saaldorf), wobei die ersteren herausfordernd sangen: »De Haueisener Mädle, die ham e gruß Maul, do kamm´r draus füttern drei Stier un en Gaul. Holderialala!«, wogegen letztere parierten: »In Mühlberg hot ane ne ganz große Gusch´, da kamm´r nei pflanz´n drei Bam un en Busch. Holderialala!«15

»Wann und von wem unsere oberländischen Volksweisen stammen, wußte schon dazumal niemand zu sagen. Auch werden dieselben Lieder »in den verschiedenen Gegenden, ja in benachbarten Dörfern anders, mit geringen Variationen gesungen. Sie weisen zum Teil sogar erhebliche Verschiedenheiten voneinander auf. Es dichtet dabei jeder Einzelne mit und so entsteht das Ganze in oft ewigem Wechsel.«16

Als kulturinteressierte Bildungsbürger gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Volkslieder unserer Region zu sammeln und zu eddieren begannen, mußten sie einige Mühen aufwenden, weil die Frauen, die den größten Teil dieses Liedgutes verwalteten, den Fremden nicht so recht trauten und sich getreu der Maxime – »Mir singe fer uns fer anner Leit net!«17 – dementsprechend zurückhielten. So bat der Schleizer Seminarlehrer und Liedsammler Carl Hartenstein im Jahre 1904 über den Saaldorfer Ortslehrer fünf junge Frauen, die jeden Tag nach dem Lemnitzhammer in die Spinnerei gingen, ihm doch einmal ihre Rockenstubenlieder vorzusingen. »Die Mädchen kamen, aßen, und rührten sich nicht. Niemand sang. Das blieb einige Abende so. Auf vieles Zureden hin tat eine endlich den Mund auf: ›Mir wollen Schnaps!‹ Die Wirtin brachte welchen. Die Mädchen tranken aber nicht. Nach stundenlangem Warten und Nötigen sagte eine endlich mutvoll: ›Sötten trinken mier niet!‹ Endlich platzte eine heraus: ›Heiratslikör‹ (Es war ein dünner Ingwerlikör) Er kam und war bald mit dem zuerst gebrachten verschwunden. Nun ging das Singen los.«18 Beinahe fünfzig oberländische Volks- und Schlumperlieder, überwiegend sentimentale Liebes und Abschiedslieder – konnte der Volkskundler daraufhin in sein Skizzenbuch schreiben. Kaum eines dieser Lieder ist heute noch bekannt. Selbst geläufigere Stücke wie ›Die Brombeere‹ (Saaldorf), ›Der Holderstrauch‹ (Lichtenbrunn) oder ›Wenn die Mädle Polka tanzen‹ (Grumbach) sind inzwischen in Vergessenheit geraten. Lediglich alltagsrelevante Lieder wie jenes vom ›Maurerstreik‹ (Möschlitz) wurden zu DDR-Zeiten ab- und an von den Bauleuten noch gesungen.

Wo Hartenstein und seine Kollegen sich mühen mußten, ergossen sich die reichen Quellen der Volksliedkultur unvermittelten Zuhörern andernseits auch ganz von selbst, so einmal zehn Studenten, die nach einer Pfingstwanderung 1895 »vom langen Marsche an dem allzuwarmen Tage ermüdet und nach ›frischem Wasser‹ schreiend«, vor einem Landgasthof im Amte Burgk Rast gemacht hatten: »Des eben hinter dem Dache auftauchenden Mondes lichter Schein lag voll und warm auf Wies und Hain und brach durch das dichte Gezweig und blinkte auf manchen Krug voll edelsten Dorfbiers, ›Eefaches‹ genannt. Doch hört: In langgezogenen Tönen klingt von ungeschulten hellen Mädchenstimmen eine getragene, fast wehmütige Weise zu uns herüber: …›Wenn wir durch die Straßen ziehen, recht wie Bursch in Saus und Braus, schauen Augen, blau und grau, schwarz und braun aus manchem Haus; und ich laß´ die Blicke schweifen nach den Fenstern hin und her. Fast als wollt ich Eine suchen. Die mir die Allerliebste wär.‹«19

Wen ergreifen sie nicht, diese schlichten Melodien voller Herz und Gemüt?

Der Beginn vom Untergang dieser lokalen Sangeskultur wird einerseits in dem ersten Aufkommen und der Verbreitung salopper Liedfragmente großer Opern und Operetten im 19. Jahrhunderts gesucht, andernseits aber in dem Aufkommen von Piano und Grammophon in den Wohnstuben der reichen Bauern. Noch zu Beginn der Tonfilmzeit in den frühen 1930er-Jahren wurde ähnlich wie heute noch in den indischen ›Bollywoodfilmen‹ die Handlung mehrfach durch Tanz- und Gesangseinlagen unterbrochen, so groß war der allgemeinde Bedarf der Zuschauer nach Musik. Mit der flächendeckenden Verbreitung des Mediums ›Radio‹ gegen Endes dieses Jahrzehnts erübrigte sich auch dies. Doch auch auf dem Land, wo selbst in größeren Dörfern anfänglich lediglich ein- oder zwei Radiogeräte existierten, ging die alten Liedkultur ihrer Bedeutungslosigkeit entgegen. So berichtet die Möschlitzer Hebamme Ida Zschach [geb. 1888], die zeitlebens eine begeisterte Sängerin und Wahrerin der alten Gesänge gewesen war, über das Ende dieser Alltagspraxis im Oberland: »Auch nach meiner Verheiratung lernte ich noch viele Lieder. Zu meinem Bedauern verstummten diese schönen Gesänge, weil die Jugend wahrscheinlich durch andere Interessen abgelenkt, diese meist inhaltsreichen Dorflieder vergaß, und mehr lockere Lieder, Brocken aus dem Varieté oder Jazz aus der Großstadt sang. Dabei mag auch der Weltkrieg mitgewirkt haben.«20 Ab dem 1. September 1939 war das öffentliche Leben für Jugendliche unter 18 Jahren stark reglementiert. Wer nach 21 Uhr im Kino oder bei einer Musikvorführung gesehen wurde, kam 3 Tage in Arrest. So blieb den Mädchen und Jungen oft nur, sich etwa am Abend auf eine Bank zu setzen und gemeinsam Volkslieder zu singen, doch selbst das wurde mitunter verboten, weil – wie ein Zeitzeuge berichtet – »sich einige Frauen beschwert hatten: ›Unsere Männer sind im Felde und hier wird gesungen!‹ Dabei waren einige von ihnen als Wachsoldaten in den Nachbardörfern eingeteilt.«21

Zwar ist es nachwievor ein fester Bestandteil des Musikunterrichts in den Schulen, einige Volkslieder (bzw. im Konfirmantenunterricht auch Kirchenlieder) zu kennen und zu singen, nichtsdestotrotz hat sich die Notwendigkeit selber zu singen, inzwischen nur noch mehr verringert. Und das wird auch so bleiben, ›solange niemand kommt und den Stecker zieht‹. Derweil dürfte jene Entwicklung weiter umsichgreifen, über eine deren Stilblüten vor einige Jahren auf der ganzen Welt gesprochen wurde: Am Beginn eines internationalen Wirtschafts-Symposiums sollte auflockerungshalber jeder Teilnehmer ein Volkslied aus seiner Heimat vorsingen. Nacheinander huben alle an, doch ausgerechnet der deutsche Vertreter blieb stumm. Eine Melodie kreiste zwar in seinem Kopf, doch der dazugehörige Text wollte und wollte ihm nicht einfallen, woraus geschlossen wurde, das Deutsche Volk habe keine Lieder mehr.

Über den Autor
Alexander Blöthner M. A. (phil.), gebürtig in Plothen bei Schleiz, hat an der Universität Jena ein ›Studium Generale‹ mit Schwerpunkt auf Geschichte und Soziologie absolviert und verfasst Bücher über Lebensphilosophie, Sagen, Orts- und Regionalgeschichte, Landschaftsmythologie als auch Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Autorenwebseite: Sagenhafte Wanderungen

1 Vgl. Stahl 1979, S. 53; Blöthner 2012, S. 35; Brückner 1870, S. 190
2 Vgl. Paul Heinecke: Erzähltes und Verbrieftes – Aus Geschichte und Sage im Raum Eisenberg 1983:42; Michels 1998, S. 148
3 Vgl. E. R. Harry Wünscher: Der Bornquas in Neustadt (Orla), in Notizen zur Stadtgeschichte von Neu-stadt an der Orla zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur von Neustadt/Orla, Band 16 (2009)., S. 164
4 Stahl 1979/2, S. 50
5 Vgl. Werner Rauh: Die Tanzlindengruppe in Gefell, in: Volkswacht, Lokalteil Schleiz (04./11.03.1978)
6 Hans Joachim Fröhlich: Wege zu alten Bäumen, Band 10 – Thüringen, Frankfurt/Main 1994, S. 183
7 Stahl 1979/1, S. 16
8 Ebenda, S. 20
9 Bruno Leipold: Dreher und Rutscher – 46 Rundtänze aus Urgroßvaters Zeiten, Meiningen 1910
10 Stahl 1979/1, S. 17
11 Peter Fauser: »De Haueisener Mädle, die ham e gruß Maul …« – Volksgesang in der Saale-Region Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Volkskundliche Beratungs- und Dokumentationsstelle 2013, S. 128
12 Vgl. ebenda
13 Brückner 1870, S. 762; Vgl. auch Robert Hänsel: Die Seibiser Singhanne, in: Oberlandhefte 1925, Nr. 6
14 Zitiert nach Behr 1927, S. 17
15 Zitiert bei Carl Hartenstein: Die Rockenstube – Thüringer Volkslieder und Rundas, Jena 1922, S. 25f., bei Fauser 2013, S. 137
16 Zitiert bei Conrad von Geldern-Crispendorf: Volkslieder aus der Herrschaft Burgk, in: Unser Voigtland – Monatsschrift für Landsleute in der Heimat und Freunde (Hg. von Gottfried Döhler), Band 1 (1895), S. 236.
17 Zitiert bei Hartenstein 1922, S. 25f., bei Fauser 2013, S. 137
18 Carl Hartenstein, in: TVV-Mitteilungen / Thüringer Volkskundliche Mitteilungen , Folge 21, Heft 1, August 2013, S. 18-25, bei Fauser 2013, S. 132
19 Zitiert bei Geldern-Crispendorf 1895), S. 235
20 Zitiert bei Fauser 2013, S. 143
21 Harry Blöthner: Meine Lebenswege (1924 -1948) – Ein Beitrag zur Alltagsgeschichte, Plothen 2016, S. 16

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