Das Klima im Thüringer Oberland: Teil 6 – Hungersnot

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Über den Autor
Alexander Blöthner M. A. (phil.), gebürtig in Plothen bei Schleiz, hat an der Universität Jena ein ›Studium Generale‹ mit Schwerpunkt auf Geschichte und Soziologie absolviert und verfasst Bücher über Lebensphilosophie, Sagen, Orts- und Regionalgeschichte, Landschaftsmythologie als auch Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Autorenwebseite: Sagenhafte Wanderungen

Die Kleine Eiszeit ist langsam am Ausklingen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts steigen die jährlichen Mitteltemperaturen wieder an. Dann wird dieser Anstieg durch das Jahr 1816 und einige abnorm kühle Jahre danach verzerrt. Auslöser hierfür war im Jahre 1815 die Explosion des Südseevulkans Tambora auf der Insel Sumbawa, welche mehr als 100 Kubikkilometer Tephra [Gestein und Aschepartikel] freisetzte. »Die bis in die Stratosphäre geschleuderten Staubpartikel verteilten sich nach und nach um die Erde und bildeten mehrere Kondensationskerne,«1 so daß sich der Himmel auf der ganzen Welt eine Zeit lang regelrecht verdunkelte und sich die Sonnenauf- und untergänge in den verschiedensten Farben bis hin zu Grün und Blau abspielten.2 Während Mitteldeutschland eine beständig kalte und nasse Witterung mit vollständiger Mißernte – sowohl beim Getreide als auch bei den Kartoffeln – verkraften mußte, fiel in Nordeuropa wie auch im Osten Nordamerikas im Juni und Juli sogar Schnee und herrschte Frost, da die globalen Durchschnittstemperaturen um 3 Grad sanken. In der Reußischen Unterherrschaft Gera kam es zu mehreren Überschwemmungen. In der Stadt lief das Wasser über den Roßplatz durch das Postgäßchen nach dem Mühlgraben. In mehreren Dörfern riefen Sturmglocken um Hilfe. Überall in Deutschland begannen die Pocken zu grassieren. Nässe, Wucher und Ängstlichkeit steigerten die Lebensmittelpreise ins Uner­schwingliche. Der Ankauf russischen Getreides in Halle, die Anlage eines Magazins und die Einrichtung eines Armenhauses sollten in Gera das Schlimmste verhindern. Auf den Fernstraßen wurden die Getreidelieferungen vom Zoll befreit. Allenortens erfolgten Armensammlungen, in der Herrschaft Rudolstadt etwa mit dem Spendenaufruf ›Bitte an Menschenfreunde‹. In Schleiz spendeten mildtätige Seelen 1.530 Taler, weitere 690 Taler kamen dafür vom Landesherrn. Im Gegenzug soll der Amtmann zu Berga im Amte Weida große Getreidemengen ins ›Ausland‹ verschoben haben, was ihn den Fluch der Hungernden eingebracht und schließlich sein Seelenheil gekostet haben soll. Das Schleizer Wochenblatt sang dem schei­denden ›Jahr ohne Sommer‹ nach: ›Flieh hin und komm uns nimmer wieder, Du nasses, kaltes, karges Jahr!‹

Und doch sollte sich das neue Jahr allgemein zum schlimmsten Hungerjahr des 19. Jahrhunderts entwickeln: »In den Wintermonaten etwa Dezember 1816 bis Ende März 1817 stieg die Zahl der Einbrüche und Diebstähle von Getreide und Mehl … stark an. Die große Mehrheit der Bevölkerung versuchte sich, trotz schwierigster Bedingungen auf ehrliche Weise zu ernähren.«3 Eine ins Leben gerufene öffentliche Speiseanstalt in Gera verteilte zweimal wöchentlich 500 bis 600 Portionen Gemüse und Brot. In Schleiz wurde am 18. Februar der Leineweber Kätzel, von Hunger entkräftet, hinter den Lössauer Scheunen tot aufge­funden. Obwohl Ende Februar eine Menge Getreidewagen auf den Schleizer Markt eintrafen, fiel der Preis des Getreides nur um ein geringes.4 »In Tanna aßen die Leute Kleiebrei und Haferbrot, im zeitigen Frühjahr sammelten sie Pilze und allerlei Kräuter. Um einen Bissen Brot fielen sie auf die Knie. Auf dem Wochenmarkt gab es sehr viel Getreide, aber teuer.«5 Am 17. März 1817 wurden in Schleiz 100 Säcke Erdäpfel zur Einsaat für die armen Leute gekauft und unentgeltlich verteilt. »Das Viertel dieser unentbehrlichen Frucht war inzwischen auf 1 Taler 12 Groschen gestiegen.«6 Der Getreidepreis stieg noch weiter, das Viertel Weizen auf 8 Taler, Korn auf 6 Taler 12 Groschen, Gerste auf 6 und Hafer auf 5 Taler. Im Juli fiel endlich der Brotpreis und sank nach der ziemlich guten Ernte auch wieder auf den normalen Stand zurück.

»Wie schon früher mußten jetzt wieder von Anfang August bis Ende Oktober wegen der Felddiebereien Wachen eingerichtet werden. 32 Mann aus der Bürgerschaft, die täglich abwechselten, hatten diesen Dienst an den Toren und auf der Stadtflur zu versehen. Auch wurden damals verschiedene Personen wegen Felddiebstählen mit öffentlicher Ausstellung am Pranger gestraft. Im Gegenzug gelang es den Geraer Behörden im Jahre 1817 »dem Treiben einer, in der ganzen Umgebung verbreiteten Mörder-, Räuber- und Diebesbande, die ihren Hauptsitz in Frankenthal hatte, durch die Festnahme der Mehrzahl ihrer Mitglieder ein Ende zu machen. Schon seit 1816 hatte die Bande, welche mehr als 40 Mitglieder zählte, die öffentliche Sicherheit, die seit 1803 im ganzen Vogtland, wie in Thüringen, sehr viel zu wünschen übrig ließ, aufs Höchste gefährdet,«7 eine Unmasse von Raubüberfällen, Einbrüchen, einzelnen Mordfälle und Brandstiftungen verübt. Weniger gewalttägig war eine in den Herrschaften Ebersdorf und Lobenstein operierende Bande aus verarmten Einwohnern aus Pirk, Pfütz und Lerchenhügel, die kein redliches Auskommen finden konnten und sich mit Betteln, Diebstählen und Wilderei in den Saalewäldern behelfen mußten und die auf den Märkten der Umgebung als ›Weißkäufer‹ in Verruf standen.

Während in Schleiz am 11. August 1817 das auf dem Markt einfahrende erste Fuder des neuen Getreides freudigt begrüßt wurde, herrschte an der Oberen Saale, etwa in Gössitz 1818 wieder schwere Not. Wahrscheinlich aufgrund verseuchten Wassers grassierte dort die Ruhr und raffte 36 Menschenleben dahin.8

1 Karin Vogler: Indirekte Auswirkungen des Vulkanausbruchs des Tambora 1815 auch auf das Gebiet des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt, in: Rudolstädter Heimathefte, Bd. 58 (2012), 5/6, S. 159

2 Vgl. Jerry Dennis: Wenn es Frösche und Fische regnet – Unglaubliche Phänomene zwischen Himmel und Erde, Hamburg 1994, S. 189f.

3 Wetzel 1932/6

4 Vgl. Bauch 2019; Meißner1893, S. 559; Schmidt 1908, S. 325

5 Wetzel 1932/6

6 Schmidt 1908, S. 325

7 Meißner 1893, S. 559f.

8 Ebenda; Vgl. auch Robert Hänsel: Das Teuerungsjahr 1816/17 im Fürstenthum Reuß-Schleiz, in: Reußischer Erzähler – Unterhaltungsbeilage zur Schleizer Zeitung, Schleiz, Nr. 13 (Juni 1925)

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