Das Klima im Thüringer Oberland: Teil 10 – Jüngere Anomalien

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Über den Autor
Alexander Blöthner M. A. (phil.), gebürtig in Plothen bei Schleiz, hat an der Universität Jena ein ›Studium Generale‹ mit Schwerpunkt auf Geschichte und Soziologie absolviert und verfasst Bücher über Lebensphilosophie, Sagen, Orts- und Regionalgeschichte, Landschaftsmythologie als auch Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Autorenwebseite: Sagenhafte Wanderungen



Wer den ›Jahrhundertsommer‹ von 2018 als extreme Dürreperiode wahrnommen hat, sei auch an die beiden Sommer von 1902 und 1903 erinnert, wo etwa die Elbe weit weniger Wasser führte als 2018. Das belegen die sogenannten ›Hungersteine‹, größere Geröllbrocken im Flußbett, wo entgegengesetzt zu den Hochwassermarken an Land, Einritzungen mit Datum, Paragraphen, auch kurzen Sprüchen die geringsten Flußstände markieren, die aber nur dann zu sehen sind, wenn der Flußpegel wieder in gleicher Tiefe liegt. So führen die Hungersteine eher ein verborgenes Dasein. Gleich den sogenannten ›Hungerquellen‹, also Quellen, die nur in besonders regenreichen Jahren wie zuletzt 2013 fließen, zeigen auch die ›Hungersteine‹ ein witterungsextremes, somit erntegefährdendes und letztendlich hungerreiches Jahr an – daher der Name. Einen historischen Tiefstand erreichte die Obere Saale im Jahre 1893, wo am 31. Juli in Ziegenrück konstatiert werden mußte, daß sich der Fluß in eine ziemlich schwarze, dickmusige, ekelhaft riechende, mit toten Fischen u.a. übersäte Masse verwandelt hatte, worin nicht mehr gebadet oder gar Wäsche gewaschen werden konnte.1

Kommen wir zum Schluß noch zu zwei klimatischen Extremen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die allein darum interessant sind, weil sie erinnerungskulturell bis heute im allgemeinen Gedächtnis geblieben sind:

So haben unsere Großeltern uns von dem ›Jahrhundertwinter 1929‹ erzählt, als vielerorts sowohl in den Häusern, als auch in der Erde die Wasserleitungen zerfroren sind. Selbst in den Wasserpfannen der Kachelöfen, wo am Abend vor dem Zubettgehen noch einmal eingeheizt worden war, fand sich am Morgen eine Eisschicht.

Auch die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren von Wetter-Extremen geprägt. Ausgerechnet der Winter 1945/46, den Millionen Menschen in Behelfsquartieren und mit stark rationierten Brennstoffen durchstehen mußten, war der härteste seit mindestens 10 Jahren. Dann folgte das Dürrejahr 1947: Infolge lang anhaltender Trockenheit und extrem hoher Temperaturen wurde das Getreide notreif. In einigen Gebieten vernichteten schwere Hagelschläge bis zu 90 Prozent der Ernte. Viele Landwirte, die sich nach dem Kriege einigermaßen wirtschaftlich wieder erholt hatten, sanken nun erneut zu Boden, wenn auch nicht auf die Art wie ihre Rinder, die oftmals vor Hunger umfielen und aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen konnten, sondern aufgehoben werden mußten. Die Mehrzahl der Bauern war aber auf ihre Kühe als Spannvieh angewiesen, was eine weitere Schwächung der Tiere und den extremen Rückgang ihrer Milchleistung zur Folge hatte. Oft wurden Notschlachtungen durchgeführt, um wenigstens einen geringen Teil der Verluste kompensieren zu können. Die von den neuen Machthabern bei ihrem radikalen Versuch, eine fortgeschrittene Gesellschaftsform mit ›menschlichen Antlitz‹ aufzubauen, lauthals propagierte Beseitigung der ›feudalen Abhängigkeit der Bauern‹ brachte diesen jedoch Lieferverpflichtungen ein, die im Mittelalter unverzüglich zu Aufständen geführt hätten. Für die Bauernhöfe wurde ein strenges Soll eingeführt, auf Produktionsausfälle keine Rücksicht genommen. Wem die Ernte verhagelt war, der mußte sich Getreide dazukaufen. So gab es Bauern, die ebenso wie die Städter keine Butter hatten, weil alles geliefert werden mußte. Wer Hühner hatte, behielt oft nur ein einziges gekochtes Ei pro Woche und Familienmitglied zurück, für die Kinder nur ein halbes. Wer dagegen mit den kommunistischen Funktionären auf gutem Fuß stand, hatte ein geringeres Soll. Die Differenz wurde dann auf andere abgewälzt. Wohl denen, die damals Verwandte oder Freunde in weniger von den Ernteausfällen betroffenen Gebieten besaßen. Oft fuhren die Bauern mit ihren Fahrrädern in die Nachbargemeinden, um sich wenigstens das Futter fürs Vieh zu beschaffen. Viele Gemeinden waren während dieser Zeit gezwungen, mehr oder mindergroße Bestände ihrer Gemeindewälder abzuholzen und als Nutzholz zu verkaufen, um ihre Liefersölle durch Geld ausgleichen zu können. Was die Gemeinden an Sollabgaben zusammenbrachten, wurde teils am Ortsrand in großen Mieten gelagert, die nachts vehement bewacht werden mußten, weil überall der Hunger grassierte. Die Rückerstattung der geliehenen Feldfrüchte, die Nachzucht der verlorenen Tiere warf manchem Bauer um Jahre zurück. Auch unter Freunden und Verwandten trennte sich mitunter die Spreu vom Weizen, ging die eine oder andere Freundschaft in die Brüche. Da wollten Landwirte, denen zuvor noch geholfen worden war, selber aber nicht helfen. Mancher Erzeuger hielt gegenüber seinen notleidenden Verwandten, Freunden oder Nachbarn, die bei ihm borgen wollten, seinen Getreideüberschuß mit der lapidaren Begründung zurück, er wollte ja gerne, aber ›die Fra´‹ wäre dagegen, denn würden weniger ›freie Spitzen‹ anfallen, bekäme sie keinen Zucker zum Kuchenbacken zugeteilt. So kam es, das mancher Hof, auch manche Gemeinde vor der Währungsreform von 1948 überhaupt nicht mehr genügend Geld besaß, daß im Verhältnis zehn zu eins noch hätte umgetauscht werden können.2

1 Vgl. Rudolph 2003, S. 53f.

2 Vgl. Willy Fröhlich u. a.: Beiträge zur Geschichte der Gemeinde Knau anläßlich der 925 Jahrfeier 1999, Pörmitz 1999; Horst Förster, Arthur Sänger u.a.: Das Jahr 1947, in: Heimatgeschichten aus dem Orlatal 2013, Heft 3; Blöthner 2008, S. 117

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