Das Klima im Thüringer Oberland: Teil 4 – Die große Teuerung von 1771

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Über den Autor
Alexander Blöthner M. A. (phil.), gebürtig in Plothen bei Schleiz, hat an der Universität Jena ein ›Studium Generale‹ mit Schwerpunkt auf Geschichte und Soziologie absolviert und verfasst Bücher über Lebensphilosophie, Sagen, Orts- und Regionalgeschichte, Landschaftsmythologie als auch Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Autorenwebseite: Sagenhafte Wanderungen

Für das Jahr 1720 ist besonders für die Dörfer Gahma und Rauschengesees eine Hungersnot überliefert, die inzwischen längst vergessen ist.1 Dafür aber ist die große Teuerung des Jahres 1771 in Erinnerung geblieben, über die fast ein Jahrhundert später noch gesprochen wurde. Dabei hatte sich das Unheil schon im Vorjahr angekündigt. Wie der Bauer Johann Friedrich Silge aus Drognitz in seiner Familienchronik vermerkte, war es bereits an den Iden des März 1770 so heiß gewesen, wie sonst nur im Hochsommern. »Dann ist am 16. ein Gewitter gekommen mit Wetterleuchten, dann hat es darauf zu schneien angefangen bis Ende März. Da hat so dicker Weg [Schnee] im Oberlande als auch im Unterlande, in den wärmsten Sommerländern der Erde über eine Elle hoch gelegen, mit grausamer Kälte wie sie die ältesten Leute nicht erlebt hatten, daß man nicht einmal einen Fuß zur Tür hinaus[setzen] konnte, ohne das nicht vorher Bahn gemachet, was bei Tage geschoben, ist bei Nacht wieder zugeschneit. Zuerst sind die Vögel gestorben, vor Hunger fielen sie in die Dörfer. Erst Anfang April hat es getaut und die Schwalben kamen aus dem Süden, doch am 12./13. April hat es wieder zu schneien angefangen und genauso tief gelegen wie der dafür, erst danach trat der Frühling ein. … Im Frühjahr 1771 hat es ebenfalls schlecht angefangen. Wieder den ganzen März über eine grausam Kälte gewesen, wieder sind viele Vögel und Hasen erfroren, Stare und Finken sind in die Häuser eingefallen und von den Giebeln heruntergefallen, wo sie tot liegen blieben. Der Mai aber hat sich so schön und so warm angefangen, aber mit schweren Donnerwetter bis zum letzten Mai.«2 Dann regnete es in Strömen, fünf Tage lang. Danach war das Land unter Wasser gesetzt. »Felder und Wiesen waren verschlammt, die Früchte verdorben. Neue Einsaat war nicht möglich. Die mißratene Ernte zwang die Bäcker, Brot von Kleie – mit gehäckselten Stroh vermischt – zu backen. Gewissenlose Aufkäufer trieben mit dem Getreide schwunghaften Handel, kauften alles verfügbare auf, um es in Nürnberg, wo die Not noch größer war, zu Wucherpreisen zu veräußern. Die ärmeren Schichten der Bevölkerung waren gezwungen, Wiesenkräuter ohne alle Zutat zu kochen, um damit ihren Hunger zu stillen. Die Dorfbäcker erhielten die Erlaubnis, ihr Brot in der Stadt zu verkaufen. Im Jahre 1772 steigerte sich das Elend in ganz Deutschland.«3 Dem Ort Blankenstein an der Saale hatte wenigstens die gute Kartoffelernte von 1770 noch über das Schlimmste hinweggeholfen, von der im Winter 1771 noch ›Herden von Bettlern aus Schwaben, Franken, Böhmen usw. mitgeteilt‹ werden konnte. Dann stieg auch hier das Korn und oft war selbst für Geld nichts zu haben. In Eisenberg bettelten täglich bis zu 300 Hungernde vor den Häusern der Wohlhabenden um etwas Nahrung. Sie nagten zum Teil an den aus den Fenstern geworfenen Knochen oder an Heringsköpfen. Viele lagen von Hunger ermattet auf den Gassen umher. Krankheiten taten das Ihrige, so daß auf dem Höhepunkt der Krise täglich bis zu 7 Personen am Tag bestattet werden mußten. Auch in den Sterberegistern anderer Kirchgemeinden erscheinen die Einträge in den Jahren 1771/72 auf einmal so zahlreich wie seit den Tagen des 30-jährigen Krieges nicht mehr. In kleineren Dörfern, wo sonst nur 1-2 Menschen im Jahr starben, waren es nun auf einmal 10-12.4

Auf den Landstraßen sind Leute »vor Hunger liegen geblieben und gestorben und tot gefunden. Da war kein Erbarmen von den Menschen gegen den anderen. Auf der Sorgaer Straße [zwischen Mittelpöllnitz und Hermsdorf] hat ein Mann tot gelegen – acht Tage – und hat sich seiner niemand erbarmt, denn die Fliegen und Bremsen hatten ihn aufgefressen und er sah erbärmlich aus. Dieser Mann war von Triptis. Den 8-then Tag ist er bei der Straße, wo er gelegen hat, eingehackt worden.«5

In Schleiz gab es anfangs noch einiges Getreide. Dann »kamen viele Händler aus Nürnberg und dem Reiche hierher und kauften das Korn zu den höchsten Preisen auf. Daher wurde der Verkauf des auf den hiesigen Markt gebrachten Getreides an Nichtbürger erst von 4 Uhr nachmittags an gestattet. Aber auch hierüber waren die Bürger schon aufgebracht und wollten einmal Moßbacher Bauern hier erhandeltes Getreide wegnehmen, mußten es ihnen aber doch lassen, da sie nicht im Stande waren, es zu bezahlen. Schließlich mußte von der Herrschaft alles Ausführen von Getreide aus Stadt und Land verboten werden. … Die Bürger hatten damals so schlechten Verdienst, daß auch Bemittelte kein Getreide mehr kaufen konnten und aus Hunger genötigt waren, das von Hafer und Kleie hergestellte elendeste Brot zu essen. Damals wurde auch, wie die Schleizer Chronik berichtet, das Trinken von Wasser statt Bieres ganz allgemein.«6

Als Folge der Mangelernährung brachen überall Krankheiten – besonders das Faulfieber [Dysenterie] – aus, die zahlreiche Opfer forderten. Im Juli 1771 ließ Graf Heinrich XII. von Reuß-Schleiz, »der noch rechtzeitig den Handelsmann Jakob August Wenigel nach Sachsen abgeschickt und dort 72 Scheffel Korn für nahezu 6 Taler das Viertel hatten aufkaufen lassen, davon das Viertel zu 3 Talern aus seinen Kornböden abgeben, auch Brot backen und unter die Armen verteilen. Im Januar 1772 wurde, wie überall hier im Reußenlande, so auch in den hiesigen Kirchen Gebete zur Abwendung der Not angeordnet und bis in den Oktober fortgesetzt. Daß es gegenwärtig in Deutschland immer mehr landwirtschaftliche Erzeuger gibt, die einen Teil ihrer Kornernte in speziellen Anlagen zur Wärmegewinnung verbrennen [!], wäre den Menschen damals ungeheuerlich erschienen und hätte ihres Erachtens nach das Strafgericht Gottes unabwendbar aufsichgezogen. Obwohl 1772 die Ernte ziemlich gut war, blieb doch das Getreide, weil Kursachsen die Sperre der Getreideausfuhr nicht gleich aufhob, noch immer sehr hoch im Preise. Erst im Sommer 1773 ließ in Folge einer ungewöhnlich guten Ernte die Teuerung nach und zwar so bedeutend, daß der Kornpreis wohlfeiler als vor derselben wurde.«7 Als Erinnerung an diese traurige Hungerszeit ließen die Reußen eine Teuerungsmedaille prägen.

1 Vgl. Amts- und Mitteilungsblatt der Verwaltungsgemeinschaft Saale-Sormitz-Höhen, Jg. 2, Nr. 3 (22.03.1996)

2 Johann Friedrich Silge, zitiert bei Günther Schalle: Drognitz – Legende einer tausendjährigen Gemeinde, Bd. 1, Rudolstadt 1992, S. 37

3 Paul Heinecke: Erzähltes und Verbrieftes – Aus Geschichte und Sage im Raum Eisenberg 1983, S. 15

4 Vgl. ebenda; Robert Hänsel: Blankenstein – Rosenthal an der Saale – Kurze Geschichte des Dorfes Blankenstein und Entwicklung von Wiede´s Papierfabrik Rosenthal, Lobenstein 1921

5 N.N.: Lebensaufzeichnungen eines Schwarzbacher Schneiders (geb. 1735), eines Vorfahren des Renthendorfer Bauern Otto Gruber, in: Heimat-Glocken, Jg. 13 (1938), Septemberausgabe bei Rolf Bergner: Renthendorf – Hellborn: Ein Heimatbuch aus den Tälern, Renthendorf 2005, S. 25f.

6 Schmidt 1908, S. 89

7 Ebenda, S. 320

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